Materielle Basis
Auszug aus Lenins Text »Über das Genossenschaftswesen« vom Januar 1923
Worin bestand das Phantastische an den Plänen der
alten Genossenschaftler, angefangen mit Robert Owen? Darin, daß sie von
einer friedlichen Umgestaltung der modernen Gesellschaft durch den
Sozialismus träumten, ohne eine so grundlegende Frage wie die des
Klassenkampfes, der Eroberung der politischen Macht durch die
Arbeiterklasse, des Sturzes der Herrschaft der Ausbeuterklasse zu
beachten. Und deshalb sind wir im Recht, wenn wir in diesem
»Genossenschafts«sozialismus pure Phantasterei sehen, wenn wir etwas
Romantisches, ja sogar Abgeschmacktes in den Träumereien erblicken, daß
man durch den bloßen genossenschaftlichen Zusammenschluß der
Bevölkerung die Klassenfeinde in Klassenfreunde und den Klassenkrieg in
den Klassenfrieden (den sogenannten Burgfrieden) verwandeln könne.
Sozialismusauffassung
Es besteht kein Zweifel, daß wir vom Standpunkt der Grundaufgabe der
Gegenwart aus gesehen recht hatten, denn ohne den Klassenkampf um die
politische Macht im Staat kann der Sozialismus nicht verwirklicht
werden.
Man betrachte aber, wie sich die Sache jetzt geändert hat, da ja die
Staatsmacht bereits in den Händen der Arbeiterklasse liegt, da die
politische Macht der Ausbeuter gestürzt ist und alle Produktionsmittel
(mit Ausnahme derer, die der Arbeiterstaat freiwillig, zeitweilig und
bedingt den Ausbeutern als Konzession überläßt) sich in den Händen der
Arbeiterklasse befinden.
Jetzt haben wir das Recht zu sagen, daß das einfache Wachstum der
Genossenschaften für uns (...) mit dem Wachstum des Sozialismus
identisch ist, und zugleich müssen wir zugeben, daß sich unsere ganze
Auffassung vom Sozialismus grundlegend geändert hat. Diese grundlegende
Änderung besteht darin, daß wir früher das Schwergewicht auf den
politischen Kampf, die Revolution, der Eroberung der Macht usw. legten
und auch legen mußten. Heute dagegen ändert sich das Schwergewicht so
weit, daß es auf die friedliche organisatorische »Kultur«arbeit verlegt
wird. Ich würde sagen, daß sich das Schwergewicht für uns auf bloße
Kulturarbeit verschiebt, gäbe es nicht die internationalen Beziehungen,
hätten wir nicht die Pflicht, für unsere Position in internationalem
Maßstab zu kämpfen. Wenn man aber davon absieht und sich auf die
inneren ökonomischen Verhältnisse beschränkt, so reduziert sich bei uns
jetzt das Schwergewicht der Arbeit tatsächlich auf bloße Kulturarbeit.
Kulturrevolution
Vor uns stehen zwei Hauptaufgaben, die eine Epoche ausmachen. Das ist
einmal die Aufgabe, unseren Apparat umzugestalten, der absolut nichts
taugt und den wir gänzlich von der früheren Epoche übernommen haben.
Hier ist ernstlich etwas umzugestalten, das haben wir in fünf Jahren
Kampf nicht fertiggebracht und konnten es auch nicht fertigbringen.
Unsere zweite Aufgabe besteht in der kulturellen Arbeit für die
Bauernschaft. Und diese kulturelle Arbeit unter der Bauernschaft
verfolgt als ökonomisches Ziel eben den genossenschaftlichen
Zusammenschluß. Bei einem vollständigen genossenschaftlichen
Zusammenschluß stünden wir bereits mit beiden Füßen auf sozialistischem
Boden. Aber diese Voraussetzung, der vollständige genossenschaftliche
Zusammenschluß, schließt ein derartiges Kulturniveau der Bauernschaft
(eben der Bauernschaft als der übergroßen Masse) in sich ein, daß
dieser vollständige genossenschaftliche Zusammenschluß ohne eine ganze
Kulturrevolution unmöglich ist.
Unsere Gegner hielten uns oft entgegen, es sei ein sinnloses Beginnen
von uns, in einem Lande mit ungenügender Kultur den Sozialismus
einführen zu wollen. Aber sie irrten sich, und zwar deshalb, weil wir
nicht an dem Ende anfingen, an dem es nach der Theorie (von allerlei
Pedanten) hätte geschehen sollen, und weil bei uns die politische und
soziale Umwälzung jener kulturellen Umwälzung, jener Kulturrevolution
vorausging, der wir jetzt dennoch gegenüberstehen.
Uns genügt nun diese Kulturrevolution, um ein vollständig
sozialistisches Land zu werden, aber für uns bietet diese
Kulturrevolution ungeheure Schwierigkeiten sowohl rein kultureller
(denn wir sind Analphabeten) als auch materieller Natur (denn um Kultur
zu haben, braucht man eine bestimmte Entwicklung der materiellen
Produktionsmittel, braucht man eine bestimmte materielle Basis).
6. Januar 1923
(Vollständiger Text in: W. I. Lenin: Werke Band 33, Berlin 1966, Seite 453-461)
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