Für ein neues historisches Projekt

Die Bedingungen für eine nicht-kapitalistische Ökonomie sind erstmals gegeben.

Heinz Dieterich - Berater der Regierung Chávez in Venezuela

Unsere Aufgabe, die uns heute hier zusammenführt, besteht darin, am Aufbruch der Völker in eine neue Zivilisation teilzunehmen. (...) Unsere Aufgabe ist defensiv und offensiv zugleich. Die Defensive besteht darin, das Wenige, was die Bourgeoisie an übergeschichtlich Positivem in 300 Jahren geschaffen hat, gegen sie selbst zu verteidigen, gegen ihre zunehmend faschistoiden Rückentwicklungstendenzen. Es geht um die Verteidigung eines Rechts- und Sozialstaates in der »Ersten Welt« und um seine Durchsetzung in der »Dritten Welt«. Doch die Defensive reicht nicht aus. Kein Krieg in der Geschichte ist durch Defensive gewonnen worden. Die Offensive ist der Königsweg, nicht nur im Krieg der Militärs, sondern auch im Krieg der Klassen und im Krieg der Zivilisation. Wir müssen den strategischen Schritt tun, der darin besteht, das neue historische Projekt der nachkapitalistischen Zivilisation in der Weltbevölkerung zu verbreiten, weiterzuentwickeln und durchzusetzen, so daß diese in autonomer Selbstorganisation den Schritt in die neue Zivilisation machen kann. Diese Aufgabe ist dringlich und nicht akademischer Natur, wo es auf Jahre nicht ankommt. Denn erstens geht die Weltbourgeoisie immer schneller dazu über, faschistoide Weltsysteme zu installieren, zweitens ist die Bourgeoisie auch auf ideologisch-juristischer Ebene nicht untätig. Am 25. Januar wird im Europarat über einen Antrag entschieden, wonach diejenigen, die für das verantwortlich sind, was dort »kommunistische Verbrechen der letzten Jahrzehnte in Mittel- und Osteuropa« genannt wird, vor Gericht gestellt werden sollen. In diesen Ländern, heißt es, sei eine Art von Nostalgie für Kommunismus immer noch lebendig, und das schaffe die Gefahr, daß kommunistische Machtübernahmen in der Zukunft möglich sind. Drittens ist die Bourgeoisie keine aufsteigende Klasse mehr, sondern stellt heute den größten Rückschritt und das größte Hindernis zur Errichtung einer solidarischen und demokratischen Weltgesellschaft dar. Das hat auch damit zu tun, daß es eine Mobilisierung der Völker der »Dritten Welt« gibt, vor allem in Lateinamerika.

Systemkonflikte

Das sind drei Elemente, die uns zwingen, die Aufgabe schnell in Angriff zu nehmen. Was das erste, die Rückentwicklung des bourgeoisen Systems, angeht, gibt es keine großen Geheimnisse. Vieles von dem, was heute passiert, sahen Marx und Engels in einer großartigen wissenschaftlichen Arbeit vor 150 Jahren voraus, z. B. die Konzentration und Zentralisation des Kapitals. Im vergangenen Jahr lagen 30 Prozent der Weltökonomie in den Händen von 200 transnationalen Konzernen. Das, was Marx die wachsende organische Zusammensetzung des Kapitals nannte, die Ersetzung lebendiger Arbeit durch Technik, ist weit fortgeschritten. In den USA und in Kanada arbeiten nur zwei Prozent der ökonomisch aktiven Bevölkerung in der Landwirtschaft. Man geht davon aus, daß in 40 Jahren nur noch fünf Prozent der Arbeitenden in der Industrie beschäftigt sind. Die Verelendung, auch das wurde vorhergesehen, erreicht inzwischen auch die »Erste Welt«. Das, was Marx und Engels die materielle Subsumtion, die materielle Unterordnung der Welt unter das Kapital genannt haben, ist heute im wesentlichen abgeschlossen. Diese materielle Unterordnung der Welt unter das Kapital schließt natürlich die Regierungen ein, Regierungen, die neoliberal sein müssen, die in Ausnahmesituationen keynesianische Regierungen sind. Heute braucht man Regierungen, die in der Lage sind, die Konsequenzen dieser Tendenzen und die des zunehmenden Konkurrenzkampfes mit den aufsteigenden industriellen Mächten China und Indien und den etablierten Mächten brutal unter Kontrolle zu halten. Denn die daraus entstehenden Konflikte können nicht gelöst werden, weil es innerhalb dieses Systems keine Lösungen gibt. Das ist eine ähnliche Situation wie um die Wende zum 20. Jahrhundert. Drei Fraktionen des Großkapitals stellen die Regierungen, die heute benötigt werden: Rüstung, Energie und der Finanzsektor. Die Bush-Regierung wird ironisch »gas and oil administration« genannt, »Ölregierung«, doch handelt es sich dabei um ein generelles Phänomen. Tony Blair ist für die britischen Energiekonzerne, was George Bush für die US-Konzerne ist. Blair ist eng verbunden mit British Petroleum, der zweitgrößten Kapitalgesellschaft der Welt, und guter Freund des Chefs von Shell, der viertgrößten Kapitalgesellschaft der Welt. Condoleezza Rice war Aufsichtsratsmitglied des drittgrößten Kapitalkonzerns der Welt, Exxon. Der nächste Präsident Rußlands wird wahrscheinlich Alexander Medwedew heißen, heute Vizepräsident von Gasprom. Gerhard Schröder ist inzwischen auch in den Trend eingestiegen. Warum sollte er auch nicht? Die Vertreter von Rüstungs-, Energie- und Finanzkapital in den gas-and-oil-Regierungen der Metropolen lieben natürlich auch gas-and-oil-Kolonien. Daher der Krieg im Irak, im Iran und die gegenwärtige Schlacht um die Ukraine, in der Schröder und Putin mit der Ostsee-Pipeline die Nase vorn gehabt haben gegenüber dem US-Kapital und seinen osteuropäischen Vasallen Estland, Lettland, Litauen, Ukraine und Polen. Jetzt geht es um den Iran, wo wir möglicherweise demnächst den zweiten nuklearen Präventivangriff der Weltgeschichte sehen werden. Der erste fand 1945 in Hiroshima und Nagasaki statt als Signal für die Sowjetunion. (...)

Strukturell am Ende

Die Mobilisierung der lateinamerikanischen Völker, das, was Hugo Chávez als bolivarische Revolution bezeichnet, die Bildung eines lateinamerikanischen Machtblocks, der uns endlich aus der Situation eines Objektes der europäischen und US-Metropolenmächte herausholt und zu einem Subjekt der Weltgeschichte machen könnte – erfüllt natürlich die Machthaber mit Sorge. Immerhin hat Venezuela große oder noch größere Ölreserven als Saudi-Arabien. Es wird gar nicht gern gesehen, daß lateinamerikanische bürgerliche Regierungen an die Macht kommen und das machen wollen, was die Europäische Union vorgemacht hat – einen regionalen Machtblock und einen regionalen Staat. (...) Wenn die Analyse so durchgeführt wird, könnte das Ergebnis lauten: Diese Zivilisation, die seit 200 Jahren existiert, ist strukturell verbraucht und wird keine wesentlichen Anreize und Fortschritte mehr bringen. Nur kann man aus der Notwendigkeit keine Tugend machen. Und natürlich ist die Einsicht, daß etwas notwendig ist, nicht gleichbedeutend damit, daß man die Kraft hat, es zu tun. Kann man beweisen, daß die bürgerliche Gesellschaft strukturell am Ende ist? Das ist eine Frage, die nur Wissenschaft entscheiden kann, und Wissenschaft ermöglicht uns zu sagen, daß diese Frage positiv zu beantworten ist: In der Tat ist die bürgerliche Gesellschaft strukturell am Ende und bietet keine Zukunftsperspektive für die Menschheit. (...)

Sozialismus in Europa

Wenn der Sozialismus, wie ich sage, eine notwendige Organisationsphase der Menschheit ist, dann ist die Frage, warum er in den europäischen Staaten zusammenbrach. Meiner Ansicht nach gibt es dafür vier wesentliche Gründe: Der erste war, und das wird sich ein bißchen seltsam anhören, daß er im Grunde ein utopischer Sozialismus war. Wir wissen alle, daß Marx und Engels von den utopischen Sozialisten, von den Frühsozialisten gesprochen haben. Aber ich denke, wenn wir sehen, wie die Theorie einerseits und die objektiven Bedingungen zur Durchsetzung der Theorie andererseits sich im 19. Jahrhundert entwickelt hatten, dann müssen wir sagen, daß die objektiven Bedingungen die Verwirklichung dieser neuen Gesellschaft mit direkter Demokratie und ökonomischer Demokratie nicht möglich machten. (...) Um nur ein Beispiel zu nennen: Es gibt eine Berechnung, die besagt, daß die Sowjetunion in den 80er Jahren die Informationsverarbeitungskapazität für nur etwa 2000 Produkte hatte, während die Wirtschaft über zehn Millionen Produkte hervorbrachte. Es lag also nicht am fehlenden Willen. Denn von Lenin über Stalin bis zu Gorbatschow gab es den Versuch, in der Sowjetunion auf planwirtschaftliche und auf wertbasierende Ökonomien zurückzugehen. Es gibt viele Hinweise darauf, daß in der Sowjetunion und in der DDR der Wille vorhanden war, zur Demokratie und zur sozialistischen, das heißt zur Wertökonomie zu gelangen. Aber entweder fehlte das Wissen, oder die objektiven Bedingungen oder die Machtverhältnisse zwischen den unterschiedlichen Fraktionen ermöglichten es nicht, solche Vorschläge durchzusetzen. Der zweite Grund für den Zusammenbruch des Sozialismus war die Fortdauer preisbestimmter Marktökonomien. (...) Der dritte Faktor: Es existierte keine ökonomische Demokratie. Die Fiktion des Volkseigentums war eben nicht mehr als eine Fiktion – es gab weder ein Eigentum in den Händen der direkten Produzenten noch in denen des privaten Kapitals. Aber die Verwaltung des Produktiveigentums durch den Staat ist etwas qualitativ völlig anderes als die durch die direkten Produzenten. Weil es keine ökonomische Demokratie gab, gab es auch keine Identifizierung mit dem Produktivkapital und keine Verteidigung dieser Gesellschaftsordnung, als eine alkoholisierte Randfigur der Lumpenbourgeoisie wie Jelzin und ein in Mystik verfallener Ex-KGB-Funktionär wie Gorbatschow die Sache in die kapitalistische Richtung wandten. Viertens: Es gab keine politische Demokratie. Die Kommunistische Partei der Sowjetunion erklärte in den 20er Jahren, die Arbeiterklasse, die nach Marx das Subjekt der Befreiung sein sollte, sei durch den Bürgerkrieg physisch ausgerottet worden und die Partei müsse an ihre Stelle treten. Das konnte man eventuell akzeptieren. Die Alternative wäre gewesen, die Macht an das Kapital zurückzugeben. Doch mit der gleichen Logik hätte man in den 50er Jahren, als die russische Arbeiterklasse sich restabilisierte, beginnen müssen, die politische Macht der Arbeiterklasse zurückzugeben. Aber diese Rückgabe ist nicht erfolgt. Diese vier Faktoren, denke ich, haben dazu geführt, daß das System nicht die Anpassungs- und Innovationsfähigkeit gezeigt hat, die die bürgerliche Überbaustruktur hatte. In den 70er Jahren gerieten beide Systeme in einee Strukturkrise. Die Kapitalisten haben diese Krise mit dem Neoliberalismus gelöst, in Osteuropa ist das Ganze den Bach runtergegangen. (...)

Neue Institutionalität

Welches sind die entscheidenden Säulen, auf denen die bürgerliche Zivilisation existiert? Die eine ist die nationale Marktwirtschaft, die zweite die formale Demokratie, die plutokratische, die Gelddemokratie, die dritte ist der Klassenstaat und die vierte ist das Subjekt. In einem institutionellen Umfeld von Bereicherungswirtschaft, die nur noch für wenige funktioniert, in formaler Demokratie, die nur für die Banker funktioniert, und dem Klassenstaat, der auch nur Ohren für die Klagen der Reichen hat, kann das Subjekt, so wie die Bourgeoisie sich das vor 300 Jahren mal erträumt hat, nicht existieren. Ich muß also diese drei großen Institutionen ersetzen: Die nationale Marktökonomie, die plutokratische Formaldemokratie und den Klassenstaat. Wodurch? In der Geschichte der Demokratie gibt es im Grunde zwei große Formen. Die teilhabende Demokratie, z. B. die der Griechen, die aber selektiv war, weil sie Frauen, Arme und Sklaven ausschloß, und die bürgerliche Demokratie. Sie war universell gedacht. Erst nach zweihundert Jahren schafften sie es endlich, sie auf Frauen und Arme auszudehnen, aber sie war stets selektiv in den Inhalten. Sie ist auf die politische Sphäre reduziert und auf Wahlen einmal in vier oder fünf Jahren. Wirkliche Demokratie findet da nicht statt. Die neue Demokratie wird beide Elemente vermitteln – sie wird universell sein wie die bürgerliche Demokratie, für alle gleich, formal gleich – und sie wird andererseits die Entscheidungskompetenz der Leute über wirtschaftliche, juristische, militärische und andere Entscheidungen wieder herbeiführen. Die Volkssouveränität, die Mehrheitendemokratie ist von den Klassengesellschaften und ihren Eliten praktisch entführt worden. Sie müssen wir in der neuen Gesellschaft. zurückgewinnen.

Kampf um Mehrprodukt

Die Frage ist – um was geht es da eigentlich? Jeder erinnert sich an Marx – Geschichte ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Das ist aber nur eine Feststellung. Er hat nicht die Kausalbeziehung dahinter geklärt. Warum ist die Geschichte die Geschichte von Klassenkämpfen? Warum kämpfen die Klassen? Warum einigen sie sich nicht friedlich? Die Erklärung ist, daß sie um das Mehrprodukt kämpfen, um den wirtschaftlichen Überschuß. Das ist die Energiequelle der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung. Wer das Mehrprodukt an sich gerissen hat, also den Überschuß nach Konsum und Investition, braucht einen Staat, um seine Aneignung zu verteidigen. Er braucht andererseits in der politischen Form, in der Demokratie, Kontrollen, die verhindern, daß die Mehrheiten sich diesem Überschuß zu sehr nähern. Die Entscheidung über das Mehrprodukt, über den wirtschaftlichen Überschuß, ist die wichtigste Variable jedes großen Sozialsystems. Die entscheidende Frage ist daher nicht die Frage des Eigentums, sondern es ist die Frage der Macht, die Frage der ökonomischen Entscheidungsmacht. In allen Klassengesellschaften liegt der wirtschaftliche Überschuß, das Mehrprodukt in den Händen der Elite. Aber das Eigentum ist nur die formale Basis dieses Aneignungsprinzips. Die Materialität, das heißt die inhaltliche Qualität dieser Aneignung liegt in der Macht. Wer die Macht hat, über das Mehrprodukt zu entscheiden, entscheidet darüber, ob ökonomische Demokratie existiert und wie es den Mehrheiten geht. (...) Über Werte und Preise gibt es nun seit hundert Jahren eine heiße Diskussion. Ich denke, es sind zwei völlig verschiedene Logiken. Die Preisgestaltung erfolgt nicht, wie die bürgerliche Ökonomie sagt, über Angebot und Nachfrage, die individuellen Präferenzkurven usw., sondern der Preis ist im wesentlichen eine Funktion der Marktstärke. Der Marktpreis wird von dem gemacht, der größere Macht hat. Die Messung des Wertes der Ware über den Wert, wie Marx ihn definierte, nämlich über die investierte Zeit, hat ein völlig anderes, objektives Ergebnis zur Folge. (...) Wir müssen also in der neuen Ökonomie weg von der Preiswirtschaft. Solange wir keine neue Ökonomie haben, die Werte mißt, sondern die Preise, haben wir keinen Sozialismus. Insofern können wir sagen, daß in den letzten 200 Jahren in politisch-ökonomischer Hinsicht keine sozialistische Wirtschaft existiert hat, weil keine Ökonomie nach dem Prinzip des Wertemessens und des Werteaustausches funktioniert hat. Das ist, wie gesagt, keine böse Absicht gewesen – doch man braucht dafür bestimmte Bedingungen. Man braucht einerseits eine bestimmte Mathematik, z. B. die input-output-Analyse von Leontjew, die seit ungefähr 70 Jahren existiert, man braucht andererseits Computer, um die Daten zu verarbeiten, und man braucht natürlich ein internationales Datentransportsystem, das wir erst seit vier, fünf Jahren haben. Wir haben also heute die objektiven Bedingungen, die Marx, Engels und Lenin nicht hatten. Und das ist es, was die Bourgeoisie in Panik versetzt. Deshalb werden solch dumme Geschichten aufgeschrieben wie die von Fukuyama vom »Ende der Geschichte«. Wenn die subjektive Komponente, wenn die Theorie der neuen Gesellschaft, wissenschaftlich fundiert und angereichert durch die Erfahrungen der Mehrheiten entwickelt wird und dafür auch die objektiven Realisierungsmöglichkeiten existieren, dann ist klar, daß die Bourgeoisie sehr geängstigt sein muß. Vor 150 Jahren konnte sie das zu Träumen erklären. Das ist heute anders. Deshalb brauchen sie ein globales Foltersystem, deshalb müssen sie global morden, deshalb müssen die europäischen Politiker Komplizen sein und deshalb müssen wir uns zusammentun mit allen gut Denkenden und die neuen Subjekte der Veränderung formieren auf der Basis dieser neuen Theorie, die niemand heute als utopisch oder als nostalgisch betrachten kann.


© Tageszeitung junge Welt. Realisation: WARENFORM