Eigentumsfrage im Mittelpunkt

Das Versagen und die Krise des Kapitalismus haben ihre Ursachen im Privateigentum an Produktionsmitteln. Ohne politische Macht kann es nicht beseitigt werden.

Hans Heinz Holz - emeritierter Professor für Philosophie und Mitglied der DKP-Programmkommission

Warum ist der Sozialismus nach den Niederlagen, die er Ende des 20. Jahrhunderts erlitten hat, im 21. nicht obsolet? Ich glaube, weil wir mit guten Gründen sagen können, der Kapitalismus hat versagt. Er hat versagt in der Einlösung dessen, was er der Menschheit ursprünglich einmal versprochen hat. Denn er hat, mit den Worten des englischen Nationalökonomen Jeremy Bentham, »das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl« von Menschen versprochen. Das war die Zeit der »heroischen Illusionen« des Bürgertums, wie Marx sie genannt hat.

Krise aller Lebensbereiche


Was ist aus dem Versprechen geworden? Die Antwort lautet: Die permanente allgemeine Krise des Kapitalismus.

Warum allgemeine Krise? Es handelt sich nicht nur um eine Krise der Ökonomie, um eine Krise der Überakkumulation des Kapitals, sondern diese Krise erfaßt alle Lebensbereiche. Sie ist eine soziale Krise durch die Ausgliederung von immer mehr Menschen aus dem Arbeitsprozeß und ihre Verstoßung ins Elend. Sie ist eine politische Krise, in der sich der Kapitalismus nur noch mit Gewalt, der Gewaltanwendung nach außen – in Kriegen gegen kleinere unterdrückte Länder und vielleicht irgendwann auch einmal in Kriegen zwischen den konkurrierenden Metropolen – und nach innen nur noch durch immer mehr Abbau von Demokratie und immer mehr Herrschaftsausübung erhalten kann. Es ist eine ökologische Krise. Denn der Kapitalismus führt notwendigerweise zu einer rücksichtslosen Naturausbeutung, (...) zu einer Zerstörung aller jener Umweltbedingungen, unter denen Menschen sich reproduzieren und unter denen sich die Natur reproduziert.

Und der Kapitalismus ist schließlich auch eine kulturelle Krise – nicht nur im allgemeinen Bildungsabbau. Sie betrifft uns alle insofern, daß die Frage nach dem Sinn des Lebens für die Menschen unter kapitalistischen Bedingungen nicht mehr beantwortet werden kann. Wir müssen an eine Alternative denken, um unseren Lebenssinn wieder zu erreichen.

Ursache Privateigentum


Was kann diese Alternative sein? Sie kann nur eine Gesellschaftsordnung sein, die die Ursachen beseitigt, aus denen der Kapitalismus in seine eigene Krise geraten ist, aus denen er sein eigenes Programm, das des größtmöglichen Glücks für die größtmögliche Zahl, nicht hat einlösen können.

Was sind die Ursachen? Die Ursachen liegen in der Überakkumulation des Kapitals, in der Verselbständigung der Kapitalbewegung gegenüber allen Lebensbedürfnissen und Lebenszwecken, denen die Wirtschaft eigentlich dienen soll. Diese Verselbständigung der Kapitalbewegung geht aus dem Privateigentum an den Produktionsmitteln hervor. Es ist die Voraussetzung dafür, daß jener Mehrwert produziert wird, der sich immer wieder als Kapital akkumuliert, reakkumuliert und weiter Mehrwert heckt. Insofern bin ich mit den Beschreibungen der Situation, in der wir uns befinden, und auch mit der Bewertung dieser Situation, wie sie uns in dem Eröffnungsreferat von Heinz Dieterich gegeben wurde, in fast den meisten Punkten einverstanden. Ob das ausreicht, dazu möchte ich später einige Fragen stellen.

Zunächst einmal aber stehen wir vor dem Problem: Wie werden wir den Sozialismus, wenn er die Alternative zu dieser sich selbst zerstörenden kapitalistischen Gesellschaft ist, konzipieren müssen, wie werden wir ihn aufbauen müssen?

Es ist völlig richtig, daß wir den Kampf gegen die kapitalistische Gesellschaftsordnung nicht aufnehmen können, ohne ein alternatives, großes, wie Heinz Dieterich gesagt hat, historisches Projekt zu haben. Ich würde einfach sagen: Nötig ist ein politisches Ziel, zu dem wir eine Gesellschaft führen wollen, damit sie nicht an diesen Ursachen des Kapitalismus zu leiden hat.

Formen der Demokratie


Auch da stimme ich sehr weitgehend mit dem, was Dieterich gesagt hat, überein. Es gibt einige Grundparameter, die für eine sozialistische Gesellschaft erfüllt sein müssen. Ich zähle sie jetzt auf, ohne eine Hierarchie andeuten zu wollen:

Das eine ist selbstverständlich eine andere Form der politischen Gestaltung unseres Zusammenlebens, das heißt, eine andere Form der Demokratie als die der bürgerlichen Demokratie. Die bürgerliche Demokratie ist als ein System des Gleichgewichts zwischen Fraktionen der bürgerlichen Klasse mit Interessengegensätzen entstanden, eines Gleichgewichts, das diese Interessengegensätze ausgleichen soll, und dafür hat es das System der repräsentativen Demokratie geschaffen.

Eine sozialistische Gesellschaft muß, und da gebe ich Heinz Dieterich völlig recht, eine partizipative Demokratie sein, das heißt eine solche, die die Gesamtheit aller Bürger in den Entscheidungsprozeß einbindet und in diesen sie zu Entscheidungsträgern macht. In frühdemokratischen Gesellschaften, die, wie Heinz Dieterich richtig gesagt hat, immer selektiv demokratisch waren, weil sie immer von einer Demokratie der Herrschenden getragen waren, gab es das. Es gab die Aristokratendemokratie im alten Athen, es gab sogar bis vor kurzem in dem Land, in dem ich lebe, in der Schweiz, noch Landsgemeinden, wo aus einem kleinen Kanton, sagen wir in der Größenordnung von Appenzell, die Bürger zusammenkamen und in einem gemeinsamen Abstimmungsakt politische Entscheidungen fällten.

Das sind Formen der Demokratie, die in der Massengesellschaft nicht mehr möglich sind. Zum einen ist die Zahl derer, die da zusammenkommen und diskutieren müßten, viel zu groß, als daß eine Kommunikation zwischen ihnen entstehen könnte. Und zum zweiten, weil die Entscheidungen, die sie treffen müssen, weit über den unmittelbar von ihnen zu überblickenden Bereich, in dem sie mit Kompetenz entscheiden können, in hoch abstrakte Vernetzungszusammenhänge des gesellschaftlichen Lebens reichen. Je komplexer unsere Produktionsverhältnisse werden, das heißt, je komplexer sich das System der Bedürfnisse, die durch die Produktion befriedigt werden müssen, entwickelt, um so schwieriger wird es für jeden einzelnen zu überschauen, was in einem solchen Komplex notwendig und nicht notwendig ist, was Bedarf ist, was nicht Bedarf ist – kurz, wofür er eigentlich sein Votum abgeben soll. Insofern läßt sich in der Demokratie einer Massengesellschaft das Prinzip der unmittelbaren direkten Beteiligung jedes einzelnen an den Entscheidungsprozessen immer nur auf eine vermittelnde Weise und nicht wie in der Appenzeller Landsgemeinde verwirklichen.

Politische Vermittlungen


Die Frage nach diesen Vermittlungen ist es, die heute gestellt werden kann und muß. Da dieses Vermittlungsprinzip in der bürgerlichen Demokratie über das repräsentative Prinzip der Parlamente zum Tragen kommt, steckt in allen Köpfen die Idee, die parlamentarische Demokratie sei diejenige, die allein als Demokratie denkbar sei.

Ich denke, daß wir mit Alternativmodellen arbeiten können und müssen. Denn die Wahl ins Parlament ist selbst wieder ein Prozeß, der sich nur unter den Bedingungen abspielt, die durch die Ordnung gegeben sind, die die herrschende Klasse oktroyiert. (...) Wir werden aber auch davon ausgehen müssen, daß es in einem sozialistischen Staat, in einer sozialistischen und auch in einer kommunistischen Gesellschaft, wenn der Staat im Absterben begriffen ist, verschiedene Menschen und verschiedene Menschengruppen und damit verschiedene Interessen gibt, die miteinander in Verbindung gebracht werden müssen. Daraus muß eine Integrationsinstanz des Gemeinsamen, des Allgemeinen, des communis omnium salus, wie man das früher genannt hat, des Gemeinwohls, hervorgehen.

Ich würde meinen, daß es für eine Demokratie dieser Art, die möglichst viele Bürger in den Vorbereitungsprozeß politischer Entscheidungen mit einbezieht, eine ganze Fülle von Möglichkeiten gibt, etwa über gesellschaftliche Organisationen, die eine bestimmte Gesellschaftsgruppe – z. B. die Intellektuellen, die Ärzte oder die Arbeiter im Eisenbahnwesen, die bestimmte ähnliche Arbeitsbedingungen haben – zusammenschließen, d. h. über Gewerkschaften, Berufsgruppenverbände und ähnliches. (...) Ich sage – eine Möglichkeit, denn wie wir uns den Aufbau des Sozialismus zu denken haben, das, glaube ich, können wir nur aus den unmittelbaren Prozessen des Entstehens und des Aufbaus selbst heraus entwickeln.

Pluralität von Übergängen


Ich glaube nicht, daß wir Utopien des Sozialismus entwerfen können. Wir müssen berücksichtigen, aus welcher Situation heraus der Übergang beginnt. Er vollzieht sich in jedem Land unter bestimmten kulturellen und historischen Bedingungen, er wird überall auf eine andere Weise erzwungen. Wir müssen eine Pluralität von Lösungsformen als möglich oder vielmehr als notwendig denken. Es wäre ein Fehler zu meinen, wir könnten jetzt gleichsam eine Idealverfassung für einen sozialistischen Staat entwerfen, solange wir nicht im Prozeß dieses Übergangs sind.

Wir haben gesehen, wie der Übergang zum Sozialismus z. B. in Kuba oder jetzt in Venezuela sich unter den spezifischen Bedingungen der dortigen Ökonomie, der dortigen Kultur, der Landesmentalität und anderer Voraussetzungen vollzieht – nicht nach einem abstrakten Schema. Voraussetzung aber, und ich meine, das ist gegenüber jedem formalen Demokratiegesichtspunkt das Entscheidende, Voraussetzung ist, daß die Grundursache des Kapitalismus abgeschafft wird, nämlich das Privateigentum an Produktionsmitteln und damit die Entstehung des Kapitalverhältnisses. Folglich ist für den Übergang zum Sozialismus in jedem Fall der Übergang einer Eigentumsform, nämlich der Privateigentumsform an Produktionsmitteln, in die des gesellschaftlichen Eigentums an Produktionsmitteln die Voraussetzung. Wir müssen daher die Eigentumsfrage in den Mittelpunkt der Erwägungen stellen, wie wir den Übergang zum Sozialismus vollziehen. Dies, meine ich, kommt in den Schriften von Heinz Dieterich und von Paul Cockshott ein bißchen zu kurz.

Politische Macht


Wenn ich mir das jetzt erschienene Buch »Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts« von Heinz Dieterich ansehe, habe ich den Eindruck, daß das Schwergewicht der Argumentation vom Distributionssektor her entwickelt wird und nicht vom Produktionssektor. Alles, was Heinz Dieterich auf dem Gebiet des Distributionssektors entwickelt, sind erwägenswerte Gesichtspunkte, über die ich gar keine Polemik führen will. Ich möchte nur die Frage stellen: Wie sieht das in der Realisierung aus, wenn wir von der Produktionssphäre, vom Privateigentum, vom gesellschaftlichen Eigentum an Produktionsmitteln und der zu installierenden Organisationsform der Produktion ausgehen? Denn die Organisationsform der Produktion liegt der Organisationsform der Distribution immer logisch und materiell zugrunde. Insofern würde ich sagen, daß all die Computervisionen, die uns Paul Cockshott hier vorgelegt hat, solche sind, die unter den Bedingungen des gesellschaftlichen Eigentums an Produktionsmitteln völlig andere Perspektiven ergeben würden als unter den Bedingungen des Privateigentums an Produktionsmitteln. Der Computer ist ein Mittel, das etwas ermöglicht, aber der Computer ist nicht die Voraussetzung für den Sozialismus. (...)

Wenn wir also von einer Vision oder einem historischen Konzept des Sozialismus im 21. Jahrhundert auszugehen haben, dann meine ich, müßten wir als erstes die Frage nach den Bedingungen für die Veränderung der Eigentumsverhältnisse stellen. Und hier komme ich, das will ich zum Schluß sagen, zu einer etwas anderen Einschätzung des Revolutionsbegriffs, als er bei Heinz Dieterich anklang.

Selbstverständlich wird sich der revolutionäre Übergang von einem Zustand in einen anderen nicht aus dem Stand vollziehen, sondern einen langen Vorbereitungsprozeß benötigen. Auch die Französische Revolution ist 1789 nicht aus dem Nichts aufgetaucht, sondern hatte ein Jahrhundert Aufklärungsphilosophie und ein Jahrhundert bürgerliche Ökonomie hinter sich. Aber der revolutionäre Übergang, der sich nach meiner Meinung nicht ohne Machtmittel vollziehen kann, besteht darin, daß neue sozialistische Eigentumsverhältnisse entstehen. Dies ist dann in der Tat ein revolutionärer Prozeß. Denn dieser Übergang geschieht nicht in kleinen Schritten und mal hier, mal da, sondern hier geht es um den Kampf gegen eine Klasse, die ihr Eigentum zu verteidigen hat. Sie wird es mit Zähnen und Klauen solange verteidigen, bis man es ihr mit Macht und Gewalt aus den Händen reißt. Und insofern, meine ich, sollten wir alle Chancen, die wir dem Sozialismus im 21. Jahrhundert geben, nicht nur als die Chancen einer möglichen anderen Ökonomie, einer möglichen anderen Organisation des Marktes oder vielmehr Abschaffung des Marktes sehen. Wir sollten sie vor allem in der Chance einer politischen Macht sehen, die in der Lage ist, die Grundbedingungen kapitalistischer Gesellschaft aufzuheben.

© Tageszeitung junge Welt. Realisation: WARENFORM